SPW oder ESPEWE?

Folgender Artikel aus dem "Deutschen Motorkalender 1968" enthält interessante Hintergrundinformationen zur Firma "ESPEWE":

"Da kam ein WandererESPEWE Wander 1904

Ursprünglich sollte es nur ein kleiner Herbstausflug in die Berge werden. So trudelten der Trabant und ich voller sonnigbunter Gedanken durch die Windungen und Haarnadelkurven der F95, bis das Ortschild Annaberg-Buchholz vor uns auftauchte. Ein gemütliches Städtchen, mit engen Straßen und an die Felsen geschmiegten Häusern. Der rechte Ort für eine Rast.

So geschah es, daß diese komischen Kartons in mein Blickfeld gerieten. Es war direkt vor einem großen, dunklen Haus, das auf einer dicken Bauchbinde behäbig seinen Besitzer verkündet: VEB Spezial-Prägewerke. Und jene Kartons wurden vor meiner Nase verladen. Mehr aus Langeweile denn aus Interesse sah ich sie mir an. Und war plötzlich gebannt. Denn solch eine Abkürzung hatte ich mein Lebtag noch nicht gesehen: ESPEWE.

Automatisch beinahe versank ich in tiefes Grübeln. Wer hätte das nicht schon erlebt: Man steht vor einer neuen Abkürzung , zermartert sich das Gehirn , was sie wohl für Geheimnisse verbergen soll, und vergißt dabei die ganze Umwelt. Was mochte das bloß sein, ESPEWE ...

Es hatte mich gepackt. Ich mußte hinter den Sinn dieser Sechs Buchstaben kommen. Koste es, was es wolle!

An wen wendet man sich in einer solchen Situation zuerst? An einen Menschen mit Lebensphilosophie. An den Pförtner also. Doch der durfte, wie er freundlich mitteilte, keine Betriebsgeheimnisse an fremde ausplaudern. Beim würzigen Duft einer Zigarre (so etwas habe ich für derartige Fälle immer bei mir) wurde er dann etwas gesprächiger.

ESPEWE, natürlich, ja. Aber schließlich - als Pförtner habe man doch auch seine Dienstanweisungen. Und da kämen jeden Tag so viele Leute, Personalausweis - gut und schön, doch den hat jeder. Wenn es wenigstens ein klitzekleiner Dienstausweis wäre ... Ach du meine Güte, und dann noch Journalist als Beruf im Personalausweis. Nee, nee damit wolle man doch auf seine alten Tage schon besser nichts haben.

Die Sache schien demzufolge völlig hoffnungslos, und ich wollte schon wieder gehen, als mir jemand von hinten auf die Schulter tippte: "Journalist sind Sie? Ja, schon, aber ... Na, Emil, dann schick` ihn mal zum Poller Rudi, das wird ihn interessieren! Ich sag` dem inzwischen Bescheid."                 

Fünf Treppen höher. Während zwei hübsche, weißbekittelte Mädchen emsig am Reißbrett werkten, spielten zwei ebenso gekleidete Männer hingebungsvoll und restlos versunken – mit kleinen Autos. Na so was ! Lassen die Mädchen für sich schuften und spielen hier herum. Dann könnten die flotten Bienen doch ebenso mit Puppen …

Ich ging hin und sagte es Ihnen. Doch die nette Dunkle sah mich irgendwie komisch an. Und die Blonde rief gar: „Kollege Poller, hier ist ein Verrückter. Er sagt, wir sollen mit Puppen spielen.“ Da kam einer der beiden Männer auf mich zu und meinte grinsend: „Das kann nur der Journalist sein.“

So lernte ich Rudi Poller kennen. Und im Laufe der nächsten Stunden begreifen, dass, was manchmal wie Spiel aussieht, durchaus ernste Arbeit sein kann. Das erste, was meinem Blick auf dem Schreibtisch des Chefkonstrukteurs, denn als solcher hatte sich Rudi Poller inzwischen vorgestellt, fesselte, war der alte Wanderer. Nein, nicht der aus dem „Eulenspiegel“ mit Jägerhut, Knotensack, langem Bart und entsprechenden Witzen. Ein echter Oldtimer. „Wanderer“, Modell 1904. Dreiundsechzig Millimeter lang, nicht halb so breit und einunddreißig Millimeter hoch. Dabei leuchtend grün mit sattroten Polstern, Radfelgen und Speichen, einem lackschwarzen Verdeck und herrlich goldglänzenden Karbidscheinwerfern. Fürwahr ein Prachtexemplar im Maßstab 1:50. Rudi Poller schien meine unverhohlene Bewunderung zu spüren. Hat uns auch genug Arbeit gemacht, der Bursche, sagt er. Aber wir hatten schon kompliziertere Fälle. Was er mir anhand von Beispielen sogleich bewies.

Auf diese Weise erfuhr ich, dass ich unversehens im größten Herstellerbetrieb der DDR für Modellspielwaren gelandet war. Und dass es, bevor man 1961 in Annaberg damit begann, niemanden bei uns gab, der sich mit so etwas beschäftigt hätte. Bei den Herstellern natürlich. Interessenten gab es dafür allerdings unzählige. Also importierten wir. Aus Westdeutschland, aus England, aus Italien. Wer dann auf die Idee kam, dass wir doch vielleicht auch selbst – das ist heute nicht mehr so genau festzustellen. War es der Modelle sammelnde Werkleiter?

Fest steht dagegen, dass die Plastverarbeitung in dem großen düsteren Haus noch gar nicht so alt ist. Bis 1961 nämlich dachte dort kaum einer an Plaste. Der VEB Spezialprägewerk war eine Kartonagenfabrik. Für Sargverzierungen und andere Prägearbeiten aus Karton. Unternehmer Herold, dem sie einst gehörte, lebt heute noch in Westdeutschland vom gleichen Geschäft. Bei uns stellte man fest, dass es für derartige Erzeugnisse nicht eines so großen zweiteiligen Betriebes bedarf. So kam die Spielwarenindustrie nach Annaberg-Buchholz. Und weil man schließlich, wenn man schon etwas Neues beginnt, auch ganz neu sein soll, wurde daraus die spezielle Industrie für Plast-Spielwaren.

1961, zur Leipziger Messe, bewunderten viele Messegäste den neuen „Robur“-Lkw. Aber wer wusste schon, dass der große Messe-“Robur“ in jenen Märztagen noch einen kleinen Bruder in Leipzig hatte, einen im Maßstab 1:87. der stand allerdings auch nicht auf dem hohen Podest am Lechnerplatz. Dort hätte ihn gewiß keiner gesehen. Schließlich: achtundsechzig Millimeter Länge …

Viel wirkungsvoller kam der kleine Messe-„Robur“ in einer Ausstellungsvitrine am Stand des VEB Spezialprägewerk Annaberg-Buchholz zur Geltung, als erstes originalgetreues Modell aus dem Entwicklungsbüro.

Natürlich musste ich dem Meister gleich mit einer gewaltig dummen Frage kommen: „Sagen Sie mal: Entwicklungsbüro, Chefkonstrukteur – ist das nicht alles ein bisschen hochtrabend? Eigentlich bauen Sie ja bloß nach, was sich die Chefkonstrukteure in den richtigen großen Konstruktionsbüros der Fahrzeugwerke haben einfallen lassen…“

Doch Rudi Poller war durchaus nicht beleidigt, „Natürlich , das stimmt schon“, meinte er. „Aber weniger Sorgen als denen macht uns das trotzdem nicht. Oder glauben Sie vielleicht, dass es so ganz einfach ist, von einem LKW lediglich den Prospekt mit drei, vier verschiedenen Bildern und den wichtigsten Abmessungen zu haben und daraus ein originalgetreues Modell zu machen? Selbst nach den richtigen Bauplänen bereitet die Sache noch gehörige Schwierigkeiten.“

Da heißt es zuallererst einmal überprüfen, welche Fahrzeugtypen sich für den Nachbau als Modell eignen. Sie müssen ansprechend, neu, attraktiv sein, alle diese Eigenschaften aber auch bei einer Verkleinerung in den Maßstab 1:87, 1:120 oder 1:160 noch haben, noch immer wirkungsvoll sein. Ja, warum denn so verrückte Maßstäbe? Ginge das nicht einfacher? Schon, schon. Aber die Modelleisenbahnen, für deren Anlagen unsere Modelle als Ergänzung dienen, haben nun mal die Größenordnungen H-Null, TT und N. Darum müssen wir es uns es eben schwer machen.

Natürlich haben wir bis jetzt nur über die Grundvoraussetzungen gesprochen, über Selbstverständlich-keiten sozusagen. Denn die eigentliche Arbeit fängt ja erst an, wenn wir mit der Verkleinerungskon-struktion beginnen, wenn wir überlegen, in wie wenigen Teilen wir das Fahrzeug produzieren können, wenn wir uns die Köpfe darüber zerbrechen, was an solch einem Millimeterauto alles noch funktionieren muß wie beim Original. Nehmen wir zum Beispiel einen Tankwagen, dann sollen sich wenigstens die Seitenklappen öffnen lassen, hinter denen die Armaturen liegen. Oder: Zur Modelltreue bei einem Feuerwehr-Drehleiterfahrzeug gehört eben, dass man die Leiter nicht nur drehen, sondern sie auch ausziehen kann, wie das bei einer richtigen Feuerwehrleiter so ist. Ein Kipper muß sich kippen, eine Baggerschaufel sich schwenken lassen. Und da Räder sich nicht nur drehen, sondern im allgemeinen auch luftbereift sind, ist halt zu überlegen, dass die Reifen aus einem weicheren Plastwerkstoff bestehen müssen als die Felgen. Daß zur Modelltreue auch die Farbgebung gehört, versteht sich.

Wer nun allerdings glaubt, damit seien schon alle Forderungen an ein Modellautomobil erfüllt, der hat sich geirrt. Denn immer wieder in Vordergrund steht die unbedingte Modelltreue. Modellsammler sind harte Burschen. Die gucken sich auch das Chassis genau an. Wehe dem Konstrukteur, der da auch nur das Reserverad unter der „Robur“-Ladefläche vergisst!

So. wenn wir nun auch noch alles auf den richtigen Maßstab umgerechnet haben und natürlich auch umgezeichnet, weshalb unsere beiden Mädchen hier wirklich keine Zeit für Puppen haben, dann kann der Handmusterbauer sein Geschick beim Fertigen des Holzmodells wieder mal unter Beweis stellen. Wir beschäftigen uns unterdessen mit den notwendigen Vorbereitungen für die anzufertigenden Werkzeugkonstruktionen, mit denen die Spritzgußautomaten dann später bestückt werden. Solch ein Werkzeug kostet immerhin Zehntausende: Sie können sich denken, dass alles was damit zusammenhängt, sorgfältig überlegt sein will. Ob nun gleich die Serienproduktion beginnt? Aber nein. Bis dahin ist es noch ein langer Weg.

Haben wir das Handmuster, wird das ganze Projekt erst einmal vor der Arbeitsgruppe Plast-Spielwaren, einem Organ der VVB, vor Fachleuten von Binnen- und Außenhandel verteidigt, sowie ein DAMW-Gutachten eingeholt. Die Technologen, in der Hoffnung, daß  es klappt, beginnen inzwischen schon mit ihrer Arbeit. Und wenn dann alles bestätigt ist, lassen unsere geschickten Frauen bald wieder eine neue Serie unter ihren flinken Händen entstehen.

Spielzeugherstellung, das dürfen Sie mir glauben, hat dabei durchaus nichts mit Spiel zu tun. Unser Skoda Bus beispielsweise besteht aus acht Teilen, die von dem Polysterol-Spritzgußautomaten kommend, auf das Band gelangen, wo sie nun zu einem Modell montiert werden. Filigranarbeit mit Milligramm und Millimetern. Das alles passiert in unserem neuen Werkteil III . In Steinach, einer 1500 Einwohner zählenden Gemeinde östlich von Annaberg-Buchholz. Aus einer ehemaligen Strumpf??? Haben wir dort einen Spezialbetrieb für Modellspielwaren gemacht. Und was meinen Sie wie viele solcher Skoda-Busse dort je Schicht geschafft werden? 1000 durchschnittlich! Hut ab vor solchen Leistungen!

Ja aber – werden die denn alle verkauft? Und ob! Wir entwickeln jedes Jahr drei bis fünf neue Modelle. Von 1961 bis Ende 1966 waren es schon mehr als dreißig verschiedene. Von jedem bauen wir je Halbjahr ungefähr 100000 Stück. Unsere Produktionszahlen steigen von Jahr zu Jahr rapide. Hatten wir 1963 noch 886000 Stück, so kamen wir im darauf folgenden Jahr schon auf über 1,3 Millionen, 1965 lagen wir mit 1,9 dicht unter den 2-Millionen-Grenze. 1966 aber mit 2,9 Millionen ganz knapp unter der 3-Millionen-Grenze. Und 1967 werden es wenigstens 3,3 Millionen werden, wovon mehr als ein Drittel in die Sowjetunion gehen. Aber auch in die CSSR, in Polen, in Ghana und in Westdeutschland werden unsere Modelle verkauft. Der Export stieg allein von 1966 zu 1967 auf 153 Prozent.

Das hat sogar schon dazu geführt, daß die Westberliner Firma Pelzer & Pelzer bei ihren „Wiking“-Modellen seit einiger Zeit nicht mehr umhin kann, für die LKW-Fahrerhäuser Vierbackenformen zu benutzen, damit auch Rückfenster eingesetzt werden können. Eine Sache, die bei uns – wegen der Modelltreue – von Anfang an selbstverständlich war.

Wann unsere Ideen alle werden? Keine bange! Sehen Sie , ungefähr 92 Prozent unserer Produktion kommen in Kinderhände. Nun ziehen wir daraus nicht den Schluß, daß es ja dann nicht so genau darauf ankommt, wie weit das Modell noch dem Original entspricht, wie es aussieht, funktioniert. Nein, wir sehen das als ein Verpflichtung für uns an. Wir wollen Spielzeug schaffen, das wertvoll ist, das Begeisterung für Technik schafft, die Kinder mit der Umwelt vertraut macht, Interesse und Liebe für die Arbeit weckt. Spielzeug also, das an zieht. Darum legen wir auch in erster Linie Wert auf  komplette Modellserien, Modellgruppen mit einer möglichst breiten Anwendungspalette. Unter diesen Gesichtspunkten entstand unsere Feuerwehrserie, entstand eine Serie Baufahrzeuge. Geplant sind Kleintransportmittel wie Multicar und Gabelstapler. Und auch eine Serie Armeefahrzeuge.

Wir haben darüber ziemlich lange debattiert. Im Kreis der Konstrukteure ebenso wie mit den Kollegen an den Automaten oder mit unseren Frauen. Es gab Kollegen, die sagen: Nein – Kriegsspielzeug und noch dazu für Kinder, das könnt ihr nicht von mir verlangen. So sind wir ins Gespräch gekommen. Und schließlich sind wir uns darüber einig geworden, daß unsere Nationale Volksarmee ebenso zum Leben und Wachsen unserer Republik gehört, wie die volkseigenen Betriebe, die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die sozialistischen Schulen und alle Errungenschaften, die wir uns geschaffen haben und auf die wir stolz sein können. Aufbau und Schutz des Erreichten bilden eine feste Einheit und das sollen auch unsere Kinder so früh wie möglich verstehen lernen, den sie müssen unser Werk eines Tages auf allen Gebieten übernehmen und würdig fortsetzen. Dazu gehört auch die Verteidigung des Sozialismus gegen die Aggressionen der Imperialisten und Militaristen.

Aus diesem Grund haben wir die Serie Militärfahrzeuge, zu der der Panzer T-54, die LKW`s der G-5-Reihe, eine Fla-Rakete auf Autolafette, ein Schützenpanzer, ein Schwimmpanzer und ein Brückenlegepanzer gehören, in unser Programm aufgenommen. Wir nennen sie patriotisches Spielzeug.

Weil wir meinen, daß die Erziehung zum Patriotismus auch unsere Aufgabe ist, daß wir den Eltern dabei helfen müssen.

Nachdenklich verabschiedete ich mich vom Chefkonstrukteur Rudi Poller. Welche großen Ideen doch in solch kleinen Autos stecken können. Und ich faßte nicht zuletzt darum den Entschluß, die ganze Geschichte für unsere Leser des Motorkalenders aufzuschreiben.

Doch als ich schon draußen auf der Treppe war, fiel es mir plötzlich siedendheiß ein: eigentlich hast du ja alles nur erfahren, weil du unbedingt wissen wolltest, was hinter der Abkürzung ESPEWE steckt. Natürlich, das, was erzählt hat, war so interessant, daß ich vollständig vergessen habe, ihn danach zu fragen. Also , noch einmal zurück. Der Chefkonstrukteur reibt sich verlegen das Kinn. Das soll dann doch lieber Werkleiter Horst Kallek sagen. Der hat Sie ja schließlich auch zu mir geschickt. Und was sagt der Werkleiter? ESPEWE – eigentlich ist das doch gar nicht so schwierig. Spezial-Präge-Werk eben. Aber einfach SPW ging nicht, weil das ja schon ein Begriff aus dem Militärwesen ist. Darum hat man die Abkürzung halt so geschrieben, wie man`s spricht. Um allerdings ehrlich zu sein, so richtig gefällt uns hier das auch nicht. Aber, wenn Sie die Geschichte doch aufschreiben wollen, vielleicht fällt den Lesern dann ein treffender, klangvoller und auch international verständlicher  Name für unsere Modelle ein …             Stefan Schnell

 

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